Jedes Mal, wenn mir jemand, meist männlich und in Bomberjacke, begegnet, dessen Gesicht und Hals überzogen sind mit eintätowiertem Dornenornament oder den alten Erkennungszeichen der Häfltlinge, fällt mir ein Begriff aus dem Eisfach Luhmannschen Verwaltungssprechs ein: ‚Komplexitätsreduktion’. Gemeint sind: Vereinfachung von Entscheidungswegen und Verringerung von Ungewissheit – neben Zugehörigkeit, Anerkennung und Verbindlichkeit die Hauptmittel gegen die Verunsicherung des Menschen, deren Kleinhalten, je nachdem, wen man fragt, zur Freiheit führt.
Fragt man hingegen die sichtlich Gezeichneten, werden sie vermutlich das Gegenteil sagen, denn Freiheit hat bei ihnen etwas mit Mut zu tun, und mutig ist nicht, wer sich nicht aus gesichertem Gebiet begibt. Aber warum frage ich mich dann auf den nächsten Metern, nachdem wir einander passiert haben, ob das Leben von Leuten, die alles so machen, wie man es eben macht – Beruf, Familie, Eigentumswohnung – nicht viel komplizierter ist als das der Ausgestoßenen und derer, die es sein wollen? Und ob es in Wirklichkeit nicht mehr Mut braucht, zu denen zu gehören, die sich ins Getriebe begeben – auch wenn die es sind, die den Mut den gänzlich Ungenierten zusprechen. Die sagen: „Der traut sich aber was!“ Oder, negativ, aber genauso anerkennend: „Wird schon noch sehen, was er davon hat.“
Ich meine, die trauen sich mindestens genauso was mit ihren aufgebauten und dauernd zusammenzuhaltenden Leben. Und festgelegt sind sie auch nicht weniger. Vielmehr scheint es so, als ginge derjenige, der sich mit seinem Gesichtsmal endgültig ausschließt von den anerkannten Wegen, nur sicher, nicht irgendwann doch noch einzulenken und als Angestellter im Anzug zu landen – also dort, wo es wirklich eng wird um den Hals.