Ich ging über ein Feld meiner Heimat in Richtung Wald und spürte, wie viel Raum über mir war. Als ich klein war, verließ mich meine Mutter einmal auf dem Spielplatz. Ich schaute nach oben, in den hellblauen, fast durchsichtigen, von Kondensstreifen durchzogenen Himmel. Als ich versuchte, den Abstand zu schätzen, wurde mir schwindelig und ich verlor für einen Moment die Selbstverständlichkeit, mit der Kinder die Welt bewohnen.
Jahre später kam die Unheimlichkeit wieder und blieb viele Monate. Es begann mit meinem Umzug nach Berlin. In den ersten Wochen hatte das Studium noch nicht begonnen und ich kannte niemanden. Ich ging durch die Straßen, setzte mich in Cafés und geriet in den Rausch und die Traurigkeit des Alleinseins. Es gab hier sehr viel zu beobachten. Selten zuvor hatte ich so viel Freude an der Tatsache gefunden, sehen und hören zu können. Meine Begegnungen blieben flüchtig: Ein Passant auf der Straße schenkte mir im Vorübergehen einen Strauß Feldblumen. Ein Obdachloser bat mich um einen Händedruck. Eine ältere Dame im Supermarkt fragte, ob ich mit ihr nach Venedig reisen wolle.
In dieser Zeit kam mir zum ersten Mal zu Bewusstsein, wie viel ich kann. Zuvor hatte ich es für ein Naturgesetz gehalten, nicht dem Fremden auf der Straße zurufen, nicht unvermittelt laut loszulachen, nicht die Scheiben der Bushaltestelle einwerfen zu können. Jetzt entpuppten sich diese Unmöglichkeiten als bloße Gewohnheiten, gebunden an meine vertraute Umgebung und an das Bild, von dem ich glaubte, dass meine Bekannten und Verwandten es sich von mir gemacht hatten. Hier wusste weder ich noch die anderen, wer ich war. Die physischen Einwirkungsmöglichkeiten, die mich nur eine kleine Entscheidung und keine Vorbereitungszeit kosten würden, kamen mir weitreichend vor. Es kribbelte in den Händen und zog in den Schläfen. Mir fiel auch ein, was ich alles bleiben lassen könnte.
Das Studium begann und ich versuchte mich mit einer Kommilitonin anzufreunden, die mir wegen ihres zarten Gesichts und ihres weichen Norwegerpullis sympathisch war. Wir trafen uns und kochten eine Kürbissuppe. Es wurde klar, dass sie sich vor allem nach dem sehnte, was sie für Normalität und Unbeschwertheit hielt, und dass die Bekanntschaft mit mir diesem Wunsch widersprach. Später trafen wir uns auf einer Wiese vor der Uni, aßen Käsekuchen und auf meine Bemerkung, dass ich manchmal das Böse in mir spüren würde, wich sie zurück und meinte, ich sei „so unheimlich“.
Der Unibetrieb blieb mir fremd. Im Seminar bat die Dozentin, Heideggers Projekt in Sein und Zeit kurz und verständlich zu umreißen. Ein dunkelhaariger, blasser Junge mit Brille nahm sich der Aufgabe an, beim Sprechen zog er die Mundwinkel etwas nach unten, in eingeübter Herablassung. Er redete von Immanenz und Transzendenz und nannte weitere Werke Heideggers, die es hinzuzuziehen gelte und ohne die man Sein und Zeit gar nicht verstehen könne. Einige Studenten nickten anerkennend und zustimmend, der Junge lächelte und lehnte sich mit hinter dem Kopf verschränkten Armen zurück. Eine andere Studentin versuchte sich, sprach schnell und aufgeregt und errötete, der blonde Junge ihr gegenüber verdrehte die Augen und seufzte. Jetzt sagte niemand mehr etwas, die Dozentin schaute erwartungsvoll. Die Dozentin versuchte nun die „Uneigentlichkeit“ lebensweltlich zu erklären: „Das ist das Gefühl, das sie bestimmt alle kennen, man macht bei etwas mit und hat dann das Gefühl ‚das ist nicht meins’.“ Das blonde Mädchen mit der spitzen Nase und dem Nachnamen einer bekannten Adelsfamilie meldete sich und sagte mit ihrer immer lauten Stimme: „Das kann man doch so nicht sagen, da ist man ja noch auf ontischer Ebene. Hier ist etwas viel Grundsätzlicheres, Tieferes gemeint.“Ich fragte mich, ob ich irgendwo ein fest umrissenes Leben führen könnte, für das man nicht über so luftige Kompetenzen verfügen müsste wie für ein Philosophiestudium. Jetzt meldete sich eine und meinte: „Ich finde das nicht richtig, dass hier ‚Eigentlichkeit’ nur mit so asozialen negativen Gefühlen wie Angst und Einsamkeit verbunden wird. Man kann doch auch ganz authentisch fröhlich sein und sich mit anderen verbunden fühlen.“ Der dunkelhaarige Kommilitone, der zuerst gesprochen hatte, zog wieder die Mundwinkel nach unten und meldete sich: „Es geht hier keineswegs einfach um ‚Gefühle’, das ist eine unangemessene und oberflächliche Interpretation …“ Ich betrachtete die Stühle mit den Metallrahmen, den dunklen Holzboden. Ich stellte mir vor, dass die Stühle zu Rollstühlen wurden und die Studenten anfingen, durcheinander zu fahren, manche bildeten Ketten und umzingelten andere, einige rammten als Einzelkämpfer jeden, der ihnen in die Quere kommt, eine Gruppe bildete einen Kreis und fasste sich an den Händen, andere fuhren an den Rand des Raumes, manche versuchten, sich hinter den Vorhängen zu verstecken. Ein Mann mit asiatischen Gesichtszügen, kahlgeschorenem Kopf, Sonnenbrille und Ledermantel, der bis jetzt schweigend neben der Tür gestanden hatte, begann zu sprechen: „Ich habe mir das jetzt eine ganze Weile angehört und ich muss sagen, ich bin schockiert. Ich bin schockiert, dass hier ein tief in den Nationalsozialismus verstrickter Philosoph auf diese Weise besprochen wird, ohne diese Verstrickung zu problematisieren. Und das hier, in diesem Gebäude, das die Nazis als Casino genutzt haben. Diese Art von akademischem Diskurs bedeutet eine totale Verharmlosung und Normalisierung von rechtem Gedankengut. Ich bin nicht bereit, mir das weiter anzuhören!“ Einige Studenten applaudieren und riefen „Danke!“ und „Genau!“ Die Dozentin versuchte Ruhe in den Raum zu bringen, jemand sagte: „Aber man muss hier doch differenzieren …“ Ich bekam Kopfschmerzen und ging nachhause.