Berlin, Winter 2012 (2/3)

Es wurde Winter und das Gefühl der Haltlosigkeit verstärkte sich. Vielleicht war ich niedergeschlagen und hätte sogar Gründe dafür angeben können, aber es kam mir vor, als wäre ich plötzlich in die Wahrheit gelangt: Erstaunlich war nicht meine Lage, sondern das Tun der anderen, ihre Geschäftigkeit und Beredtheit, deren Grund sie selbst nicht kannten. Ihre Sicherheit wurde mir unerklärlich. Wenn ich Menschen hörte, die voller Ernst geschäftliche Telefonate führten – „Danke für Deinen Input“ – „Das wird die nächste Challenge“ – „Wir müssen das proaktiv angehen“ – staunte ich; wenn ich vom Werdegang ehemaliger Mitschülerinnen hörte – Schülermitverwaltung, Abitur mit Bestnote, Auslandsaufenthalt, Studienstiftung – wunderte ich mich; wenn ich Männer sah, deren Köpfe sich automatisch nach vorübergehenden Frauen wendeten, lachte ich.

Einmal wurde ich im Bus kontrolliert und konnte keinen Fahrschein vorzeigen. Ich nannte dem Kontrolleur eine falsche Adresse und war überzeugt, dass er es akzeptieren würde. Früher war ich sehr empfindlich gegenüber meinen Mitmenschen. Jetzt fühlte ich meist Gleichgültigkeit, die in manchen Momenten von einem starken Verbundenheitsgefühl abgelöst wurde. Der Winter 2012 in Berlin war ein harter Winter. Die Luft kam aus Moskau und die Sonne schien selten.

Eine Schulfreundin kam zu Besuch. Als sie im Gang meine kaputten Schuhe betrachtete, meinte sie: „Ich habe meinen Mitbewohnern in Regensburg allen erzählt, wie anders du bist. Dass du dich ganz anders anziehst und ganz anders denkst als alle anderen.“ Ich antwortete ihr, dass ich eigentlich immer mehr das Gefühl habe, sehr viel, vielleicht sogar alles Wesentliche mit anderen Menschen gemeinsam zu haben und dass das sowohl mein Gefühl der Liebe als auch der Einsamkeit gesteigert habe. Ich fügte hinzu, dass es vielleicht nicht Liebe war, die ich für jeden in meiner Umgebung empfand, aber dass ich immer wieder deutlich die Möglichkeit spürte, ihn oder sie, nicht die Menschheit als abstraktes Ganzes, zu lieben, und dass mich meine tatsächliche Nicht-Liebe dann manchmal sehr traurig stimme. Sie lächelte, um mir zu zeigen, dass sie das nicht ernst nehmen könne, aber unterhaltsam, in einer für mich typischen Weise, „komisch“ fände. Ich ergänzte: „Und ich habe nicht unbedingt das Gefühl, dass diese Kälte ein gesellschaftliches Problem ist. Eher ein Problem der körperlichen Grenzen, der eingeschränkten Sinneswahrnehmung und des schlechten Gedächtnisses.“ Später am Abend berichtete sie mir ein sie verstörendes Ereignis aus ihrer Kindheit, von dem sie, wie sie sagte, noch nie jemandem erzählt habe. Mit dem Besuch endete unsere Freundschaft und ging in einen gelegentlichen, oberflächlichen Kontakt über.

Nach dem ersten Augenaufschlag sah ich gegen die Decke. Mein Zimmer war 9qm groß und länglich geschnitten, meine Matratzen lagen direkt unter dem Fenster. Ich blieb liegen und dachte daran, was ich schreiben wollte. Ich notierte etwas auf einen Zettel und warf ihn weg. Auf dem Fensterbrett sitzend rauchte ich drei Zigaretten. Der Blick in den Innenhof wurde begrenzt von einer fensterlosen Hauswand, von denen es in Berlin viele gibt. Ich stand auf und ging spazieren. Es schneite, kleine weiße Pünktchen vor dem Betongrau des Himmels, es sah aus wie Fernsehflackern. An der roten Ampel, vor den vorbeirasenden Autos, merkte ich, es war ebenso gut möglich, jetzt auf die Straße zu laufen, wie es nicht zu tun. Ich hatte ein ähnliches Gefühl, als ich als Kind meinen Fotoapparat über die Brüstung des Eiffelturms baumeln ließ. Loslassen war ebenso möglich wie festhalten. Ich ging in die Wohnung zurück, legte mich wieder hin und versuche noch mal nachzudenken: Hamlet klingt eigentlich wie Omelett, nur weniger flach. Kein bier vor vier, es sei denn das Bier heißt Becks, dann kein Bier vor sechs. Ein Sekt im Menschen ist ein Insekt.

Manchmal sprach ich mit meiner Mitbewohnerin. Sie war Mitte 30, arbeitete als Mechatronikerin, und man konnte sehen, dass sie zu wenig geliebt worden war. In Stresssituationen gab sie oft einen hohen Quieklaut von sich, ein Tick, wie sie mir sagte. Ihre ältere Schwester promovierte in Mathematik, sie selbst hatte keine Gymnasialempfehlung bekommen, weil sie Hefteinträge nicht schnell genug abschreiben konnte. Ich fragte mich, ob ich anfangen würde, sie zu lieben, wenn wir über längere Zeit in dieser Wohnung eingesperrt wären, wegen eines wochenlangen Schneesturms, zum Beispiel.

An einem anderen Tag verließ ich die Wohnung und ging in den REWE in der Invalidenstraße. Am Eingang, kurz hinter der Schiebetür saß ein Hund. Ich bewunderte sein Gesicht, überhaupt, Hundeköpfe – sie ziehen sich so nach vorne, durchschneiden die Welt vor sich, das erschien mir edel und klar, nur Möpse. Im REWE verirrte ich mich und vergaß, was ich wollte. Ein schöner Supermarkt, die Luft war gar nicht so schlecht. Als Kind dachte ich, man bekäme Akne vom Im-Supermarkt-Arbeiten, das hatte ich mir so zusammengereimt, wegen der Jungen an den Kassen und denen hinter den Fleischtheken, die mir Gelbwurst, die sie Kinderwurst nannten, herübereichten. An der Kasse suchte ich Blickkontakt mit dem, den ich in der Nähe am Schönsten fand, sah wieder weg, bekam Angst, dass ich das Geld nicht schnell genug heraussuchen kann, und danach, dass ich zu langsam beim Einpacken bin, und das war ich ja wirklich.

Hier in Berlin ein halb begonnenes Leben – und dann das. Schlimmer als Gefangenschaft ist, wenn alle Fixpunkte verschwunden sind. Ich suchte eine Verhaltenkonditionierungsfrau auf, wie man es mir geraten hatte. Die Frau sah aus wie ein geplatztes Huhn und meinte, ich solle Kurvendiagramme über meine Stimmung führen und Sport treiben. Von ihrem kleinen Sitzungsraum sah man auf die Hochhäuser der Checkpoint-Charlie-Gegend. An einem Flipchartboard erklärte sie mir, dass es einen Zusammenhang gebe zwischen Gedanken, Gefühlen und Handlungen und zitierte einen Philosophen: Es sind nicht die Dinge, die die Menschen beunruhigen, sondern ihre Art, über sie zu denken.

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